Offener Brief „Evakuierung der Lager“
Offener Brief: Relocation jetzt – gerade wegen Corona!
In einem offenen Brief an lokale Vertreter*innen in Bundestag, Landtag und Europaparlament fordern wir zusammen mit der Initiative „200 nach Marburg“ und der „Seebrücke Marburg“ die Relocation von Geflüchteten aus den griechischen Lagern – nicht trotz sondern gerade wegen der drohenden Katastrophe durch Corona!
Der offene Brief im Wortlaut (auch hier als pdf):
OFFENER BRIEF
Marburg, 11.04.2020
Betreff: Relocation jetzt – gerade wegen Corona
Sehr geehrte Damen und Herren,
das Leid der Geflüchteten an den Südgrenzen Europas geht weiter – und wird sich durch die sicher zu erwartende Ausbreitung der Corona-Pandemie auf die Flüchtlingslager weiter dramatisch verschärfen.
Das Schicksal dieser Menschen darf nicht gegen politische Interessen ausgespielt oder durch die Auswirkungen der Pandemie im eigenen Land übertönt werden. Wir als zivilgesellschaftliche Initiativen fordern Sie als unsere politischen Vertreterinnen und Vertreter auf, sich für die Einhaltung der Menschenrechte einzusetzen und die Geflüchteten aus den griechischen Lagern sofort zu evakuieren! Die Aufnahme von 50 unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten ist tatsächlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Rund 40.000 Migrant*innen und Geflüchtete befinden sich aktuell auf den griechischen Ägäis-Inseln: in überfüllten Flüchtlingscamps und unter menschenunwürdigen hygienischen Bedingungen.
Es droht eine humanitäre Katastrophe!
Wir dürfen die Menschen an den europäischen Außengrenzen in Zeiten der Krise nicht zurück lassen. Auch am letzten Sonntag fanden in zahlreichen Städten Protestaktionen unter dem Motto #leavenoonebehind statt, bei denen viele Menschen, unter Beachtung aller Maßnahmen zum Infektionsschutz, ihre Kritik der Verhältnisse an den europäischen Außengrenzen und ihre Forderungen an die Verantwortlichen ausgedrückt haben.
Marburg und die zuständigen politischen Gremien haben wiederholt öffentlich erklärt, dass sie bereit sind, Geflüchtete aus den Lagern aufzunehmen. Ähnliche Erklärungen gibt es aus anderen Gemeinden in Hessen, wie z.B. aus Darmstadt, Wiesbaden oder Kassel und bundesweit aus Potsdam oder Berlin. Mehr als 140 aufnahmebereite Kommunen haben sich zu sicheren Häfen erklärt und sagen: Wir haben Platz!
Die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker in Hessen, in Deutschland und in Europa haben dies bislang mit erklärter Unzuständigkeit – die Landesregierung schiebt die Verantwortung auf die Bundesregierung und die auf Europa – und fadenscheinigen bürokratischen Argumenten verhindert. Politikerinnen und Politiker tragen damit wesentlich dazu bei, dass Menschen weiterhin an den Südgrenzen Europas unter unwürdigen Bedingungen leben müssen – wegen ihrer großen Zahl auch mit einer erheblichen Belastung für die einheimische Bevölkerung. Es besteht jetzt die Gefahr, dass die Corona-Pandemie das Elend der Menschen in den Lagern ins Unvorstellbare verschlimmert und sehr viele Menschen sterben werden.
Natürlich hören wir auch das Argument, dass die Umsetzung der Relocation-Initiative gerade jetzt wegen der Corona-Pandemie nicht möglich sei. Vor der Pandemie wäre es leichter gewesen, das ist richtig. Aber gerade jetzt, wo sich die Situation für die Geflüchteten so verschärft, können die politischen Versäumnisse der Vergangenheit nicht die Rechtfertigung dafür sein, auch jetzt nichts zu tun. In der aktuellen Lage müssten die Menschen nach ihrer Ankunft in Marburg und in anderen Städten vermutlich zunächst in Quarantäne gehen. Eine mögliche Quarantäneunterbringung könnte, unter Erfüllung gebotener hygienischer Maßnahmen, leicht etwa in leerstehenden Tagungs- und Fortbildungseinrichtungen und Hotels erfolgen.
Es geht darum, Menschenleben zu retten!
Wir fordern die Umsetzung der Relocation-Initiative nach Marburg und in die anderen beteiligten Städte jetzt. Die Versäumnisse der Vergangenheit können nicht das Argument sein, auch jetzt nichts zu tun.
Mit freundlichen Grüßen,
Lydia Koblofsky
für das „Interkulturelle Begegnungszentrum Kerner“ aus Marburg, die Relocation-Initiative “200 nach Marburg” und die Seebrücke Marburg
Weitere Mitzeichner*innen:
agent21Zukunftswerkstatt
Ausländerbeirat der Universitätsstadt Marburg
Diakonisches Werk Marburg-Biedenkopf, Geschäftsführung und Fachbereich „Flucht und Migration“
Extinction Rebellion Marburg
Initiative Afghanisches Hilfswerk e.V.
Kulturhorizonte e.V.
Bislang haben nur fünf der angeschriebenen Politiker*innen auf den Offenen Brief reagiert:
- Sören Bartol (SPD), Bundestagsabgeordneter des Landkreis Marburg-Biedenkopf
- Angela Dorn (Bündnis 90/Die Grünen), Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst, MdL
- Elisabeth Kula (DIE LINKE), Landtagsabgeordnete des Landkreis Marburg-Biedenkopf
- Angelika Löber (SPD), Landtagsabgeordnete des Landkreis Marburg-Biedenkopf
- Jan Schalauske (DIE LINKE), Landtagsabgeordneter des Landkreis Marburg-Biedenkopf
Die Antworten könnt Ihr beim Klick auf die Personennamen nachlesen.
Bundestagsabgeordneter des Landkreis Marburg-Biedenkopf: Sören Bartol (SPD)
Antwort vom 14. April 2020
„Sehr geehrte Frau Koblofsky,
Sehr geehrtes Interkulturelles Begegnungszentrum Kerner,
Sehr geehrte „200 nach Marburg“-Gruppe,
Sehr geehrte Seebrücke Marburg,
vielen Dank für Ihren gemeinsamen offenen Brief. Sie haben Recht: eine humanitäre Krise in den Lagern für Geflüchtete auf den griechischen Inseln steht kurz bevor. Die Lager sind für eine geringere Zahl von Menschen ausgelegt, die hygienischen Bedingungen sind erschreckend und der Corona-Virus wird auf lang oder kurz auch keinen Bogen um diese Camps machen.
Ich habe bereits Anfang März einen Brief an den Bundesinnenminister Horst Seehofer geschrieben, nachdem die Terre des Hommes-Gruppe Marburg sich an mich gewandt hatte. In dem Brief habe ich den Innenminister auf die Initiative Marburgs aufmerksam gemacht und ihn gebeten, Marburg als Sicherem Hafen unbegleitete minderjährige Geflüchtete zuzuweisen.
In einem Antwortbrief aus dem Innenministerium hat der zuständige Staatssekretär allerdings darauf hingewiesen, dass Deutschland erst Geflüchtete aufnehmen könne, wenn die Situation an der griechisch-türkischen Grenze geordnet sei und eine europäische Lösung vorliege.
Daher bin ich froh, dass sich die SPD in der Großen Koalition vorerst durchsetzen konnte und in dieser Woche die ersten 50 Kinder von den griechischen Inseln nach Deutschland geholt werden.
Ja, Sie haben Recht – 50 Kinder sind mit Blick auf die große Zahl an Hilfsbedürftigen auf den griechischen Inseln ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich persönlich, aber gerade auch unsere Fachpolitiker*innen in der Bundestagsfraktion werden den Druck erhöhen, um die Aufnahme weiterer Schutzbedürftiger nun zeitnah durchzusetzen.
Ich bin sehr froh, dass die Universitätsstadt Marburg als Vorbild voran geht und innerhalb des Bündnisses der „Städte Sicherer Häfen“ so engagiert mitarbeitet. Auch die vielen ehrenamtlichen Initiativen in Marburg, die sich für Geflüchtete einsetzen, zeigen das überdurchschnittliche Engagement der Marburger Zivilgesellschaft.
Bitte lassen Sie uns den Druck auf den unterschiedlichen Ebenen, auf denen wir agieren, hochhalten – ich werde es tun.
Mit freundlichen Grüßen und bleiben Sie gesund.
Sören Bartol“
Hessische Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst, MdL: Angela Dorn (Bündnis 90/Die Grünen)
Antwort vom 06.05.2020
Die Antwort von Angela Dorn ist hier nachzulesen.
Landtagsabgeordnete des Landkreis Marburg-Biedenkopf: Elisabeth Kula (Die LINKE)
Antwort vom 14. April 2020
„Vielen Dank für die wichtige Initiative aus Marburg! Wir als LINKE. Im Hessischen Landtag unterstützen eure Forderungen und setzen uns vehement für ein Landesaufnahmeprogramm und für viele weitere sichere Häfen in Hessen und ganz Deutschland ein.“
Landtagsabgeordnete des Landkreis Marburg-Biedenkopf: Angelika Löber (SPD)
Antwort vom 20. April 2020
„Sehr geehrte Frau Koblofsky,
vielen Dank für Ihre Nachricht vom 11. April 2020.
Dies betreffend habe ich am 9. April 2020 der Seebrücke Marburg eine Antwort zukommen lassen, welche Sie untenstehend finden. Im Sinne der flüchtenden Menschen würde ich es mir wünschen, dass die Landesregierung ihrer Ankündigung im Koalitionsvertrag bald nachkommen wird.
Für Rückfragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Angelika Löber
Mitglied des Hessischen Landtags
Betreff: Umsetzung des Landesaufnahmeprogramms
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für Ihre Nachrichten betreffend die Umsetzung des Landesaufnahmeprogramms.
Die Situation für die große Anzahl flüchtender Menschen ist eine gravierende, sei es zwischen der Türkei und Griechenland oder in Libyen. Aus diesem Grund verstehe ich Ihr Anliegen sehr gut und befürworte es, dass eine adäquate Lösung gefunden wird.
Leider befindet sich die SPD-Fraktion im Hessischen Landtag in der Opposition, weswegen der Handlungsspielraum für mich sehr begrenzt ist.
Die schwarz-grüne Landesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, dass ein Landesaufnahmeprogramm für eine Gruppe Schutzsuchender mit hoher Vulnerabilität auferlegt werden soll. Nach der Landesregierung sollen mehr Flüchtlinge in Hessen aufgenommen werden, als es nach der üblichen Verteilung sein müsste. Aktuell laufen Gespräche darüber, welche Gruppe von Flüchtlingen berücksichtigt werden soll. Die Landesregierung möchte prüfen, ob unter anderem auch Seenotgerettete aufgenommen werden können. Laut dem flüchtlingspolitischen Sprecher der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen bedürfe es allerdings einer ordentlichen und umfassenden Prüfung, damit am Ende ein rechtssicheres Programm zustande komme. Diese Prüfung gilt es abzuwarten.
Im Sinne der flüchtenden Menschen würde ich es mir wünschen, dass die Landesregierung ihrer Ankündigung im Koalitionsvertrag bald nachkommen wird. Auch die Bundesregierung und alle EU-Mitgliedstaaten sollten ihrer Verantwortung gerecht werden. Die von Seiten der Bundesregierung geplante Aufnahme unbegleiteter Kinder aus Griechenland ist ein guter Anfang.
Für Rückfragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Angelika Löber“
Landtagsabgeordneter: Jan Schalauske (DIE LINKE)
Antwort vom 25.04.2020
Liebe Frau Koblofsky, liebe Menschen vom Interkulturellen Begegnungszentrum Kerner, liebe Mitstreiter*innen von „200 nach Marburg“, liebe Seebrücke Marburg,
vielen Dank für Ihren und Euren unermüdlichen Einsatz für Geflüchtete im Allgemeinen und Ihr und Euer aktuelles Engagement mit Blick auf die Corona-Pandemie und ihre dramatischen Folgen für Menschen in den Flüchtlingslagern im Süden Europas. Ihre und Eure Forderung, die Geflüchteten aus den griechischen Lagern sofort zu evakuieren, teile ich voll und ganz! Die Corona-Pandemie droht die humanitäre Krise in den Lagern in eine gefährliche humanitäre Katastrophe zu verwandeln. Auch die Einschätzung, dass die Aufnahme von 50 unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten tatsächlich nicht viel mehr ist als ein Tropfen auf den heißen Stein, teile ich voll und ganz.
Bereits seit vielen Jahren sitzen viele tausend Menschen in den Lagern in Griechenland und Libyen unter menschenunwürdigen Bedingungen fest. Andere sterben tagtäglich im Mittelmeer bei dem Versuch nach Europa zu gelangen. Während verantwortliche Politiker in Europa von Humanität, Menschenrechten und Demokratie reden, werden diese Werte an den Außengrenzen der Europäischen Union mit Füßen getreten. Dieser Zustand ist unerträglich.
Es ist zivilen und staatlichen Seenotrettungseinsätzen zu verdanken, dass viele Zehntausende Menschen aus Seenot gerettet und in einen europäischen Hafen gebracht werden konnten. In Deutschland setzen sich wie Sie und Ihr unzählige Menschen für die Aufnahme und die Rechte Geflüchteter ein. Dieses Engagement gilt es zu unterstützen. Mehrere Städte und Gemeinden haben ihre Aufnahmebereitschaft signalisiert und sich als Teil der „Seebrücke-Bewegung“ zum „Sicheren Hafen“ erklärt, unter ihnen in Hessen: Marburg, Wiesbaden und Kassel.
Es ist endlich an der Zeit, dass die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien diese Stimmen ernst nehmen und mehr Menschen in Not aufnehmen und die Flüchtlinge aus den Lagern an den Außengrenzen der EU solidarisch in Europa verteilt werden. Deutschland als eines der reichsten Länder kommt dabei eine große Verantwortung zu, Menschen aus den Südländern Europas aufzunehmen. Diese Verantwortung erwächst u.a. auch aus den Austeritätsprogrammen mit denen die deutsche Regierung Länder wie Griechenland zu Kürzungsdiktaten gezwungen hat.
Ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass die Delegation der Verantwortung von Regierenden und sie tragenden Parteien immer auf eine jeweilig andere Ebene (vom Land zum Bund, von dort zur EU und wieder zurück) mit Blick auf die humanitäre Krise schwer erträglich ist. Deshalb bleibe ich auf einer Ebene für die ich gewählt bin: Das Land Hessen, dass meiner Meinung nach seinen Beitrag dazu leisten muss, an dieser Situation etwas zu ändern. Unsere Fraktion hat im Mai letzten Jahres die Landesregierung aufgefordert, ein Aufnahmeprogramm nach § 23 Abs. 1 AufenthG – wie im schwarzgrünen Koalitionsvertrag angekündigt – anzuordnen: zur Aufnahme der geretteten Menschen in Hessen. In diesem Antrag haben wir auch gefordert neue gesetzliche Grundlagen zu schaffen, die Kommunen die freiwillige Aufnahme von Geflüchteten ermöglichen soll. Im Februar 2020 haben wir beantragt, im Landeshaushalt für ein Aufnahmeprogramm notwendige Mittel zu veranschlagen. Beides wurde von den Mehrheitsfraktionen aus CDU und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Ich habe Ihnen und Euch beide Anträge diesem Schreiben beigelegt.
Die Verzögerung eines Landeaufnahmeprogramms durch CDU und Bündnis 90/Die Grünen ist für die Menschen in Not fatal. Umso wichtiger, dass wegen aber auch unabhängig von der Corona-Pandemie weiter aus der Zivilgesellschaft Druck gemacht wird. Die kreativen Aktionen der #leavenoonebehind-Kampagne unter Beachtung aller Maßnahmen zum Infektionsschutz waren dazu ein wichtiger Beitrag.
Sie können sich darauf verlassen, dass die Fraktion DIE LINKE. im Hessischen Landtag und ich als Person uns weiter nach Kräften für die sofortige Umsetzung eines Landesaufnahmeprogramms ebenso einsetzen werden wie dafür, dass Kommunen freiwillig Menschen auf der Flucht aufnehmen können, etwa aus den Lagern an den Außengrenzen der Europäischen Union.
Falls Sie Ideen und Überlegungen haben, wie wir gemeinsam der Forderung mehr Nachdruck verleihen können, zögern Sie nicht, mich zu kontaktieren.
Freundliche Grüße,
Jan Schalauske
Keine Antworten auf unseren Brief erhielten wir von:
Landtagsabgeordnete:
Dr. Horst Falk (CDU)
Dirk Bamberger (CDU)
Karl-Hermann Bolldorf (AfD)
Abgeordnete des Europaparlaments (aus Hessen):
Dr. Udo Bullmann (SPD)
Nicola Beer (FDP)
Engin Eroglu (Freie Wähler)
Michael Gahler (CDU)
Martin Häusling (Bündnis 90/Die Grünen)
Sven Simon (CDU)
Christine Anderson (AFD)